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Wolfgang – 16 Jahre nüchtern

Wolfgang soziale Landwirtschaft Fleckenbühl

Wolfgang lebt seit 16 Jahren in der Fleckenbühler Gemeinschaft. Im Oktober wird er 60 Jahre alt und plant schon jetzt eine schöne Geburtstagsfeier.

Bevor er zu uns kam, lebte und arbeitete er auf einem landwirtschaftlichen Betrieb, nur eine Autostunde von Fleckenbühl entfernt. 25 Jahre lang verrichtete er bei dem Bauern und dessen Familie landwirtschaftliche Arbeiten: Felder bestellen, Kühe melken, Ernte einfahren, all dies gehörte zu seinen Aufgaben. Von der Arbeit erzählt er gerne, besonders wenn er sich an die Viehauktionen, an denen er teilgenommen hat, erinnert, leuchten seine Augen.

Mit der Bauernfamilie lebte er in einem Haushalt. Seine Erinnerungen an diese Jahre sind nicht nur gut:

„Ich habe viel Schlechtes bei ihnen erfahren. Der Bauer, mein Lehrherr, war aufbrausend und Schläge kamen immer wieder vor.“

Trotzdem blieb Wolfgang dort.

Diese Jahre haben ihn sehr geprägt und sind nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Es gibt bis heute immer wieder Situationen, die ihn stark verunsichern. Er kam aus einem Kinderheim, als er seine Ausbildung mit 17 Jahren auf dem landwirtschaftlichen Betrieb begann.

Wolfgangs Mutter war Hausfrau, sein Vater Mechaniker bei einer großen Firma. Ein Stiefbruder aus der ersten Ehe seiner Mutter lebte bei der Großmutter. Wolfgang hatte eine zwei Jahre jüngere Schwester.

Schon in seiner frühen Kindheit beginnen die Eltern stark zu trinken. „Ständig am Saufen waren sie, es verging kein Tag an dem sie nicht tranken“, sagt Wolfgang. Im Alkoholrausch streiten die Eltern lautstark, prügeln sich. „Meine kleinere Schwester weinte dann immer“, erinnert er sich. Die Geschwister haben große Angst, wenn es zu Gewaltausbrüchen des Vaters kam.

Als seine Schwester acht Jahre alt ist, kommt sie bei einem Unfall ums Leben. „Meine Mutter war auf dem Weg zu ihrer Putzstelle und schickte meine Schwester auf die gegenüberliegende Straßenseite, um Zigaretten und Bier zu holen. Auf der vierspurigen Straße wurde sie von einem Auto erfasst, sie flog zwölf Meter durch die Luft und ist nach einigen Tagen an ihren Verletzungen verstorben.“ Wolfgangs Stimme versagt, wenn er darüber spricht.

Wer hat Schuld an dem Unfall? Zuhause kommt es ständig zu gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen den Eltern. Immer öfter eskaliert die häusliche Situation. Durch seinen Alkoholkonsum verliert sein Vater seine Arbeitsstelle und ist arbeitslos, seine Mutter hat eine Putzstelle. Mit seiner Mutter versteht Wolfgang sich besser als mit seinem gewalttätigen Vater.

Bis dahin war er ein guter Schüler, jetzt nimmt er kaum noch am Unterricht teil. Er wiederholt die vierte Klasse. Danach wechselt er auf die Hauptschule. Mit einigen Mitschülern hat er sich gut verstanden „aber ich war meistens für mich. Ich ging eigentlich gerne in die Schule“. Mit elf Jahren beginnt er zu rauchen. Er hat zwei „Kumpels“, die gerne mitmachen. Bald kommt Alkohol ins Spiel und es dauert nicht lange, da sind Bier und Schnaps seine ständigen Begleiter. Sein Zuhause ist weiter vom Alkoholkonsum und Gewaltausbrüchen geprägt.

Mit durchschnittlichen Noten verlässt Wolfgang nach der neunten Klasse mit einem Hauptschulabschluss die Schule. Er will „etwas mit Holz“ machen und geht in eine Berufsfachschule. Nach einem Jahr findet er das Berufspraktikum „uninteressant“ und bricht ab.

Er ist 15 Jahre alt. „Mittlerweile kommt immer öfter die Fürsorge zu uns nach Hause“, erinnert sich Wolfgang.

„Meine Eltern wollten mich nicht mehr und gaben mich in ein Kinderheim. Dort war es besser als zuhause.“

Das Heim ist für ihn wie eine neue Familie, es gibt regelmäßige Mahlzeiten, seine Wäsche wird gewaschen, die Freizeit ist strukturiert. „Es war für mich wie eine neue Familie“.

Er trinkt weiter mit seiner Clique „so, wie das Geld gerade reicht“. Ab und zu stiehlt er jüngeren Kindern auch mal ihr Taschengeld.

Im Kinderheim gibt es Tiere: Ein Pferd und Schweine werden von den Kindern und Jugendlichen versorgt. „Hier ist meine Tierliebe entstanden“, sagt Wolfgang. In der dörflichen Umgebung lernt er die Arbeit der Bauern kennen und in ihm wächst der Wunsch, mit Tieren zu arbeiten.

Mit 18 Jahren soll er zur Verselbstständigung in eine betreute Wohngruppe wechseln. Das will er nicht, er entscheidet sich, eine Ausbildung in der Landwirtschaft zu beginnen. Es gibt eine freie Stelle in der Bauernfamilie. Bauer, Bäuerin und deren Tochter nehmen ihn auf und er beginnt die Ausbildung zum Landwirt.

„Lieber wäre ich im Heim geblieben.“ Sein Lohn ist sehr niedrig, er lebt beim Bauern für Kost und Logis. Sein winziges Zimmer ist nicht beheizbar. Im Dorf bleiben ihm die „Kumpels“, die gerne mit ihm dem Alkohol zusprechen. Bier und Korn sind seine besten Freunde.

Oft schlägt ihn der Bauer, wenn etwas bei der Arbeit zu Bruch geht, sind der anschließende Wutausbruch und die dazugehörige Gewalt für Wolfgang Normalität.

„Warum bist du nicht weggegangen?“ frage ich Wolfgang. „Ich habe mich verpflichtet gefühlt zu bleiben.” „Warum?“ „Das habe ich mich auch schon oft gefragt“, antwortet er.

Außer Arbeit und Alkohol gibt es bald nichts mehr in seinem Leben. Er entwickelt sich zum Spiegeltrinker. Ein Bekannter aus dem Dorf sieht, dass Wolfgang immer weiter abstürzt und versucht zu helfen. Wolfgang zeigt sich einsichtig. „Dein Zustand ist es kein Leben mehr“, sagt er und beginnt im Internet nach Hilfsangeboten für Wolfgang zu suchen.

Er selbst ist Landwirt und sucht nach einem landwirtschaftlichen Betrieb, auf dem Alkoholiker zusammen „trocken“ leben. Er stößt auf Fleckenbühl. „Ich bring dich von hier weg, zum Alkoholentzug – und da kannst du den Rest deines Lebens bleiben.“ Am 29. Juli 2004 fährt er Wolfgang nach Fleckenbühl.

Wolfgang weiß kaum etwas über Fleckenbühl. „Gewöhnungsbedürftig“, nennt er die erste Zeit. Im sogenannten „Bootcamp“ – das Bootcamp ist für hauswirtschaftliche Arbeiten zuständig – sind ihm drei Frauen überstellt. Das ist ihm in deutlicher Erinnerung geblieben.

Praktika, in denen er weitere Arbeitsbereiche kennenlernt, sind Landschaftspflege, Umzugsunternehmen und Feldwirtschaft. Sein fester Arbeitsplatz wird die Viehwirtschaft. Seitdem ist er „im Stall“.

Wolfgangs neues Leben ist lange Zeit geprägt von Ängsten. Viele Jahre der Gewalt und Unterdrückung haben ihre Spuren hinterlassen. Die Form, unsere Konflikte und Auseinandersetzungen auf unserem „Spiel“ zu klären, fällt ihm besonders in den ersten Jahren sehr schwer. Heute ist es für ihn Gewohnheit geworden, er kann seine Ansichten und seine Meinungen selbstbewusst äußern.

Seit Jahren fährt er mit seinen Fleckenbühler Freunden zum Urlaub in den sonnigen Süden. Das war für ihn etwas ganz Neues und es ist immer noch etwas Besonderes.

Im Stall beherrscht er alle anfallenden Arbeiten, er ist überall einsetzbar, ist „Mädchen für alles“. Neue Bewohner, die nun ihrerseits ein Praktikum im Stall machen, nimmt er an die Hand und erklärt die Arbeitsschritte. Er interessiert sich weiterhin für landwirtschaftliche Themen und das Arbeiten in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft nach Demeter-Richtlinien findet er gut.

Sein nettes Einzelzimmer nutzt er, um nach getaner Arbeit auszuruhen. Er fährt viel Rad, geht gerne ins Kino. Im Sommer schaut er gerne beim Volleyball-Spiel auf unserem Sportplatz zu oder unterstützt auch aktiv die Mannschaft.

Eine Freundin hat er nicht. „Ich bin mit meinem Leben zufrieden, so wie es ist. Die Freiheit, die ich in Fleckenbühl habe, hatte ich noch nie. Ich will bleiben, solange es geht.“

Zu seinen Eltern hat er seit seinem 15. Lebensjahr, als sie ihn ins Kinderheim gaben, keinen Kontakt. Er will es nicht.

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